Francis Kéré ist ein genauer Beobachter, exzellenter Vordenker und Baumeister – seine Architektur ist von radikaler Einfachheit. Der in Burkina Faso geborene und in Berlin lebende Architekt verbindet in einzigartiger Weise Kultur und Lebensgewohnheiten des afrikanischen und europäischen Kontinents. Für seine inspirierende Herangehensweise an die Architektur und seine außergewöhnliche Handschrift wird Kéré Architecture zum AW Architekt des Jahres 2021 gekürt. Die Installation Arbre à Palabres – der Baum, unter dem man sich trifft, um sich zu beraten, zu reden und voneinander zu lernen – bildet den programmatischen Kontext für die dargestellten Projekte, wie u.a. die Gebäude für die Nationalversammlungen von Benin und Burkina Faso, den National Park of Mali, die Freie Waldorfschule Weilheim, das Burkina Institute of Technology oder die Taylor-Brücke in Mannheim.
Arbre à Palabres präsentiert geplante und realisierte Projekte, die verdeutlichen, wie Francis Kéré und sein Team soziales, politisches und bautechnisches Wissen aus ganz Westafrika nutzen, um zu Entwürfen zu gelangen, die den Zweck eines Gebäudes und die Menschen, die es nutzen, in den Mittelpunkt stellen. Unter der raumgreifenden Installation eines abstrahierten Kapokbaums werden die verschiedenen Projekte in drei Kategorien gegliedert präsentiert: Civic Dialogue, Creative Exchange und Inspired Education. Civic Dialogue vereint Projekte, die uralte demokratische Praktiken westafrikanischer Gesellschaftsstrukturen erforschen, Creative Exchange zeigt Räume, die eine besondere Art des kulturellen Dialogs ermöglichen, wie sie in bestimmter traditioneller Architektur zu finden sind, und Inspired Education befasst sich mit einem Eckpfeiler der Praxis von Kéré Architecture – nämlich mit Bildungsinfrastrukturen, die gutes Design als integralen Bestandteil der Lernerfahrung begreifen.
1. Civic Dialogue (Bürgerdialog)
Kéré Architecture nimmt die auf die vorkoloniale Zeit zurückgehende demokratische Praxis westafrikanischer Gesellschaften, Gerichtsverhandlungen, Versammlungen und öffentliche Debatten unter einem Kapokbaum abzuhalten, zum Motiv und überträgt dies in seine Entwürfe für Regierungsgebäude und öffentliche Einrichtungen in eine zeitgenössische Form. So deutlich zu erkennen in der Typologie der Gestaltung der in Planung befindlichen Benin National Assembly wie im Entwurf der National Assembly of Burkina Faso, in dem sich auch Landschaften aus dem ganzen Land in der Architektur spiegeln. Ebenso sichtbar in der Gestaltung des National Park of Mali, auf dessen grünen Plätzen verschiedenste Arten von öffentlichem Austausch stattfinden können.
Taylor-Brücke, Mannheim. © Kéré Architecture | Luftansicht der National Assembly of Burkina Faso. © Kéré Architecture
2. Creative Exchange (Kreativer Austausch)
Einige traditionelle Bauformen in Westafrika sind so konzipiert, dass sie eine bestimmte Art von Dialog fördern. Ein Musterbeispiel dafür ist die Toguna, ein kommunaler Versammlungsort, der in unterschiedlichen Varianten in der gesamten Region zu finden ist. Charakteristisch für eine Toguna ist ihre niedrige, oft aus Holz und Heu bestehende Deckenkonstruktion die dafür sorgt, dass man sich darin nur gebückt oder sitzend aufhalten, nicht jedoch aufrecht stehen kann, wodurch es praktisch unmöglich ist, im Zuge der Versammlung körperlich aggressiv zu werden. Kéré Architecture macht sich dieses Vermögen der Architektur, sanft auf die Menschen einzuwirken und so friedliche Zusammenkünfte zu begünstigen, für Orte des kreativen Austauschs zunutze: So beispielsweise im Besucherpavillon Xylem in Montana oder den Räumlichkeiten für eine Stiftung in der Schweiz, die sich an Unternehmen und Kulturschaffende aus ganz Afrika und der afrikanischen Diaspora richtet.
3. Inspired Education (Inspirierte Bildung)
Schon seit dem ersten Schulbau von Kéré Architecture, der Gando Primary School, liegt der Schwerpunkt des Büros auf der Gestaltung von Bildungsinfrastrukturen, in denen das Lernen weit über die reinen Unterrichtsinhalte hinausgeht. Der Gestaltung des Gebäudes sowie der Auswahl der zum Bau verwendeten Materialien liegt bereits eine Methodik zugrunde, mit der einerseits eine in Hinblick auf Temperatur und Luftqualität angenehme Lernumgebung geschaffen werden soll und die andererseits auch den Geist, so Francis Kéré: „zu Höhenflügen und die Lernenden zum Träumen anregen will.“ Bei den meisten Projekten kann der Campus laufend erweitert werden, da der Raumbedarf mit jedem Jahrgang und der wachsenden Zahl der Schülerinnen und Schüler und der Studierenden ständig steigt. Dies gilt etwa für das Burkina Institute of Technology, den Startup Lions Campus in Kenia oder die Naaba Belem Goumma Secondary School in Gando. Aktuell überträgt Kéré Architecture diese Erfahrungen aus dem Bau seiner inspirierenden Schulen in West- und Ostafrika auf geplante Projekte in Europa, darunter die Freie Waldorfschule Weilheim vor den Toren Münchens.
Startup Lions Campus. © Kéré Architecture | Studenten im Gespräch am Burkina Institute of Technology. © Kéré Architecture
Szenografie
Die drei Projektkategorien werden in einer raumgreifenden Installation präsentiert, die dem Gestaltungsmotiv der „Baum-Struktur“ der Benin National Assembly entspricht. Sie fügt sich in den Ausstellungsraum von Aedes und entspricht in leicht abgewandelter Form dem „Stamm“ des tatsächlichen Gebäudes, der die Krone, die Assembly trägt. Es erinnert an den Stamm und die prachtvollen Wurzeln eines Kapokbaums und vermittelt den Besucherinnen und Besuchern das Gefühl, unter seinem Blätterdach zusammenzukommen. In der Struktur der Installation sind Ausstellungsexponate präsentiert und an anderer Stelle Sitzbänke eingebaut, die – wie das ganze Gebäude – einen Ort zum Ausruhen und Begegnen bieten sollen.
Über Francis Kéré
Nach einer Ausbildung zum Zimmermann studierte Francis Kéré Architektur an der TU Berlin und gründete 2005 das Studio Kéré Architecture. Dort arbeitet er – wie er selbst sagt – „an der Schnittstelle von Utopie und Pragmatismus“ und verpflichtet sich als Architekt der gebauten Umwelt auf allen Ebenen. Zu seinen bekanntesten Bauwerken zählen das Operndorf mit Christoph Schlingensief in Ouagadougou, der National Park of Mali, das Centre of Earth Architecture in Mali für den Aga Khan Trust for Culture, der Serpentine Pavilion in London sowie die Grundschule in seinem Heimatdorf Gando, für die Kéré bereits 2004 mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet wurde. Neue Bauten wie die Benin National Assembly in Porto-Novo und dem Startup Lions Campus in Turkana County, Kenia, befinden sich derzeit in Realisierung.
Francis Kéré, Berlin, 2021. © Urban Zintel | Kéré Architecture Workshop, Berlin, 2021. © Urban Zintel
AW Architekt des Jahres 2021
„Mit der Auszeichnung AW Architekt des Jahres würdigt das Hamburger Architekturmagazin seit 2012 jährlich das Talent einer herausragenden Architektenpersönlichkeit, die mit kreativer Denkweise, ganzheitlichen Gestaltungsansätzen und inspirierendem sozialem Engagement Haltung beweist“, erklärt Thomas Garms, Chefredakteur AW Architektur & Wohnen. „Mit seinen Ideen und Projekten hat Francis Kéré in den letzten 20 Jahren als internationaler Impulsgeber und architektonische Ausnahmeerscheinung für Aufsehen gesorgt und weltweit Anerkennung erhalten – in seiner Zunft und darüber hinaus.“ Bisherige Preisträger sind u.a. MVRDV, Bjarke Ingels Group, gmp Architekten, Dorte Mandrup und Snøhetta.
AW Architektur & Wohnen mit Sitz in Hamburg ist eines der führenden Magazine für Architektur, Design, Wohnen, Gartengestaltung und Reisen in Deutschland. Seit mehr als 60 Jahren beteiligt sich AW Architektur & Wohnen aktiv am kulturellen Diskurs, setzt sich für höchste Qualität in Architektur, Innenarchitektur und Produktdesign ein und präsentiert internationale Vordenker aus diesen Bereichen. Seit 1997 kürt die Redaktion alljährlich international renommierte Gestalter als AW Designer des Jahres, darunter Patricia Urquiola, Ronan und Erwan Bouroullec, Jasper Morrison, Nendo und Raw Egdes. AW Designer des Jahres 2021 ist Piero Lissoni. Seit 2012 verleiht AW Architektur & Wohnen neben dem AW Designer des Jahres auch den Preis AW Architekt des Jahres. Mit dieser Auszeichnung ehrt die Redaktion Architekten, die durch individuelle Konzepte und kreative Gestaltungsideen neue Impulse für Architektur und Stadt geben.
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